Der Koloss wackelt

Zu einem „zweiten Kanada“ könnte Russland werden, sobald es den Putinismus mit seinen wahnhaften imperialistischen Zielen abschüttelt. So urteilte Österreichs langjähriger Verteidigungsminister Werner Fasslabend kürzlich vor dem Salzburger Paneuropaforum in der Stiegl-Brauwelt. Stattdessen ist Russland heute zerrüttet, sein Volk blutet und seine Führer zittern. Der Koloss wackelt. Der Knackpunkt: desillusionierte, demotivierte und traumatisierte Kämpfer in Putins Kolonialarmee sind Vorboten einer unaufhaltsam nahenden Wende. Exilvorschläge für Prigoschin und Putin. Von Ludwig Bayer

Das New Yorker Nachrichtenportal Bloomberg meldete am 7.7.2023: „Putin beordert tschetschenische Kämpfer und Häftlinge an die Front“. Hintergrund ist, dass sich der Kreml an eine umfangreiche militärische Mobilmachung nicht mehr heranwagt, weil dies höchstwahrscheinlich zu offenen Rebellionen in den Städten führen würde. Seit Prigoschins Marsch Richtung Moskau fürchten die Putinisten, die miese Stimmung, begleitet von kleinen latenten Revolten, könne in eine große Revolution gegen das Regime münden.

Die Putinisten bekommen es mit der Angst zu tun: Angst vor dem eigenen Volk, das in diesem Krieg keinen Sinn mehr sieht – vor allem, seit Prigoschin bekannt gab, dass alle von Putin verkündeten „Kriegsgründe“ erstunken und erlogen waren. Bloomberg stützt sich auf Geheimdienstquellen: Tschetschenen sollen die Lücken in der Frontlinie, die der Wagner-Rückzug aufgerissen hat, wieder schließen. Nicht bedacht wird dabei freilich, dass Kadyrow „der nächste Prigoschin“ sein könnte. Er läuft sich derzeit warm.

Am selben Tag (7.7.) berichtete CNN, was Russen sagen, die in ukrainische Gefangenschaft gerieten. Sie offenbaren Schwachstellen in der Kommandokette: „Schmerzmittelabhängige Kommandeure erteilen unsinnige Befehle, die Soldaten in den Tod treiben“.

Die Kampfmoral der Russen sinkt weiter

Bei CNN kommen russische Kriegsgefangene zu Wort, die von der ukrainischen Dritten Sturmbrigade festgehalten werden. Sie schildern erschreckende Szenen aus dem Grabenkrieg, Chaos in den eigenen Reihen und eine niedrige und weiter sinkende Kampfmoral. Die Ukrainer hätten sie in einem provisorischen Gefängnis untergebracht. Dort hätten sie Zugang zu Nahrung, Wasser und Zigaretten. CNN bemerkt, dass viele der russischen Kriegsgefangenen vormalige Strafgefangene sind, die vom Kreml an die Front geschickt wurden, um im Gegenzug ihre Strafen zu reduzieren oder zu annullieren. Immerhin leben sie nun in ukrainischem Gewahrsam besser als zuvor in russischen Kerkern. Jetzt können sie westliche Zigaretten rauchen und über den „größten Führer aller Zeiten“ und das düstere Schicksal ihrer Heimat nachdenken.

Mit dem Gewehr gegen ukrainische Panzer

Keine Verpflegung. Kein Wasser. Nichts! Am 8.7.2023 meldete der Twitterkanal Wartranslated: „Russische Soldaten weigern sich zu kämpfen. Weil sie bloß mit Gewehren ausgestattet gegen ukrainische Panzer kämpfen sollen und schlecht versorgt werden, machen russische Soldaten ihre Lage öffentlich. Immer wieder tauchen Videos von russischen Soldaten auf, die in kleinen Gruppen vor der Kamera stehen und auf schlimme Zustände in Russlands Streitkräften aufmerksam machen. Es geht um fehlendes Training, inkompetente Kommandanten, genauso wie mangelhafte Ausrüstung und ausbleibende Zahlungen“.

Videos zeigen den Frust an der Front

Neue Filmaufnahmen von der Front schildern den Frust. In einem knapp drei Minuten langen Video, das ein Logo des Nachrichtendienstes Telegram trägt (wo es offenbar zunächst verbreitet wurde), sagen die Männer, sie seien in der südrussischen Region Altai Krai – nahe der chinesischen Grenze – zwangsrekrutiert worden und befänden sich derzeit direkt an der Kriegsfront in der Ukraine. Sie seien an ihrer Position von ukrainischen Panzern beschossen worden. Sie sollen nun den Panzern mit Gewehren entgegentreten. Doch dazu seien sie „nicht bereit“. Mehrfach betont ein Soldat, dass er und seine Kameraden unter den gegebenen Bedingungen nicht kämpfen könnten und auch nicht kämpfen wollten.

Androhung von Kampfverweigerung

Die Putin-Truppen spüren Mangel an allen Ecken und Enden. Das beginne bei der schlechten Kommunikation mit der Militärführung, die Einheiten nennt, deren Existenz die Soldaten und ihre Familien in Russland inzwischen bezweifeln. Auch die Aussage eines Kommandanten, sie nach einem Rückzugsgefecht in die „dritte Defensivlinie“ zurück zu verlegen, sei offenkundig eine Lüge gewesen: „Wir sind hier in Reihe null“, sagt ein Soldat im Video. Immer mehr russische Militärangehörige drohen mit Kampfverweigerung. Auch in Sachen Verpflegung sehe es für die russischen Soldaten miserabel aus. Nachdem sie ihre Kommandanten gebeten hätten, sie mit Wasser und Lebensmitteln zu versorgen, seien sie im Gegenzug beschimpft worden. „Die erzählen, dass es an der Front im Wald genug Essen und Wasser gibt; in Wahrheit gibt es nichts“. Was die Versorgung der Verletzten angeht, dauert es rund sieben Stunden, bis Hilfe kommt, was bei einigen der Soldaten bereits zur Folge hatte, dass sie Arme und Beine verloren haben, obwohl sie bei angemessen rascher Behandlung ihre Gliedmaßen behalten hätten.

Seit Monaten kein Sold mehr ausbezahlt

Die US-Zeitung Newsweek berichtet: „In einem russischen Video sind Soldaten aus verschiedenen Regimentern zu sehen, die inzwischen zu einer Kompanie geschrumpft wurden. Von anfangs über 100 Soldaten seien gerade einmal noch 40 übriggeblieben“. Die Überlebenden berichten, die Versorgung der Verletzten sei katastrophal. Putin-Soldaten drohen, den Kampf einzustellen, denn neben der schlechten Versorgung hätten sie auch bereits seit Monaten keinen Sold mehr erhalten, von dem sie bislang zum Teil ihre eigene Munition hätten kaufen müssen.

Junge gebildete Russen verlassen das Land

Die Alternative zum Putinismus gewinnt für junge Russen an Attraktivität: Zu einem „zweiten Kanada“ könnte Russland werden, wenn es auf wahngetriebene Eroberungskriege verzichten würde. Das sagte der langjährige österreichische Verteidigungsminister und Nationalratspräsident Werner Fasslabend, als er kürzlich vor dem Salzburger Paneuropaforum sprach. Durch verifizierte Berichte steht zweifelsfrei fest: täglich wandert eine große Menge an jungen Russen ins Ausland ab. Viele sind gut ausgebildet. Ihre Zahl wird allmählich in den Millionenbereich steigen. Sie werden künftig der russischen Wirtschaft fehlen (brain drain / Talenteabwanderung). Fazit: Die Putinisten schädigen Russland in Dimensionen, die nur mit dem Mongolensturm im 13. Jahrhundert – Dschingis Khan und dessen Nachfahren – sowie mit den stalinistischen und nationalsozialistischen Verwüstungen des 20. Jahrhunderts vergleichbar sind.

Putins Angreifer zahlen einen hohen Blutzoll

Die Aggressoren selbst tragen die Schuld für das Massensterben von Soldaten der russischen Kolonialarmee bei ihren vergeblichen Versuchen, befehlsgemäß die Ukraine zu vernichten. Ein paar Zahlen machen es deutlich. Am Morgen des 8.7.2023 listete der ukrainische Generalstab die entsetzlichen Verluste der putinistischen Angreifer seit der Februar-Attacke 2022 auf. Demnach belaufen sich die Gesamtverluste der russischen Armee in der Ukraine auf 233.440 Soldaten. Täglich kommen bis zu tausend „Ausfälle“ hinzu, weil Invasionssoldaten auf den Schlachtfeldern sterben oder so schwer verwundet werden, dass sie dauerhaft kampfunfähig bleiben.

Mittlerweile haben die russischen Truppen mehr als 12.000 Panzer und gepanzerte Fahrzeuge verloren. Dazu kommen gigantische Mengen anderer Waffen. Das Bild zeigt zerstörtes russisches Kriegsgerät, das im Zentrum von Kyiv ausgestellt ist. c Europäische Union 2022 Dati Bendo

An Panzern plus anderen gepanzerten Fahrzeugen (wie Schützenpanzern) hat die Putin-Armee mittlerweile mehr als 12.000 verloren, sodass britische Militärexperten meinen, in diesem Sektor habe sich soeben eine historische Wende vollzogen: „Die Ukraine verfügt über mehr einsatzfähige Panzer als Russland“. Dass Putin nun Museumspanzer zu reaktivieren versucht, die genauso alt sind wie er selbst (70 Jahre), ändert wenig am Gesamtbild. Allenfalls erhöht es den Missmut in den Reihen der putinistischen Kolonialarmee. Wachsende Demoralisierung der eigenen Kämpfer wird immer mehr zum Hauptproblem Putins. Das zweitgrößte Problem für die Putintruppe sind die immer umfangreicher werdenden Lieferungen aus 54 Unterstützerstaaten an die Ukraine.

Kreml hat viel Kriegsmaterial verloren

Die Folge: Der Kreml verlor gut 4.000 Artilleriesysteme sowie mindestens 10.000 Mehrfachraketenwerfer einschließlich vieler Flugabwehrsysteme. Abgeschossen wurden 315 russische Militärflugzeuge – dabei sind die angekündigten amerikanischen F-16-Maschinen auf ukrainischer Seite noch gar nicht im Einsatz. Des weiteren haben die Ukrainer 309 russische Hubschrauber zerstört, 3.670 Drohnen und annähernd 1.300 Marschflugkörper sowie gut 7.000 verschiedene Fahrzeuge und Treibstofftanks. Die Abschussquote steigt – und die putinistischen Eroberer nähern sich dem Punkt, an dem sie der Aufforderung von 141 Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen Folge leisten müssen, das ukrainische Staatsgebiet wieder zu verlassen. Es gab in dieser Abstimmung nur sieben Nein-Stimmen in der UNO-Generalversammlung vom 24.2.2023.

Es wird einen zweiten Prigoschin geben

Putin hat bislang alle Ziele verfehlt – mit seltenen Ausnahmen: der Iran liefert unverdrossen weiterhin sogenannte Kamikazedrohnen mit Schiffen über das Kaspische Meer; soweit die persischen Kähne flusstauglich sind, können sie die Wolga aufwärts bis Stalingrad fahren. Diese Stadt heißt heute bekanntlich Wolgograd. Man gedenkt dort alljährlich der Millionen Russen, die vor acht Jahrzehnten ums Leben kamen. Zyniker meinen, Putin wolle die Menschenvernichtungs-Rekordmarken von Stalin und Hitler übertreffen. Dass ihm dies nicht gelingen wird, steht angesichts der sinkenden Kampfmoral seiner Truppen fest. Bald wird es einen zweiten Prigoschin geben, der Richtung Moskau marschiert. Wenn dieser den Despoten Putin vom wackelnden Thron stößt, könnte sich im Kreml vielleicht die Ratio durchsetzen.

Mit Abzug der Russen ist der Krieg vorbei

Vernünftig wäre es, den genannten UNO-Beschluss mit der gesamten Charta der Vereinten Nationen endlich ernst zu nehmen – und die darin steckende Friedensbotschaft zu verstehen: Mit dem Abzug des letzten russischen Soldaten aus der Ukraine ist der Krieg automatisch zu Ende. Der Friedensvertrag ist auch schon da, nämlich die UNO-Charta. Profitieren würden davon nicht nur die Ukrainer, sondern auch die Russen, die immer klarer erkennen, dass sie diesen moralwidrigen Vernichtungskrieg nie gewinnen können – egal, wie viele junge Menschen noch für Putins Wahnvorstellungen aufgeopfert werden.

Da Putin Verträge für wertlose Fetzen Papier hält, würde ein Waffenstillstand ohne russischen Truppenabzug keinen Sinn ergeben. Noch missverständlicher wäre eine Abtretung ukrainischer Gebiete an Russland. Verhaltensgestörte wie Putin würden daraus den Schluss ziehen, dass es sich letztlich doch lohnt, in ein Nachbarland einzumarschieren.

Schrullig ist die These österreichischer Putinbewunderer, da Russland „unbesiegbar“ sei, müssten die Ukrainer russische Annexionen akzeptieren. Da gewiss niemand das völkerrechtlich definierte Territorium Russlands angreifen oder okkupieren will, ist klar, dass es ausschließlich um die Durchsetzung der UNO-Charta und des zitierten Beschlusses der Generalversammlung der Vereinten Nationen geht, also um die Heimreise, die Abreise der mordlustigen russischen Kurzzeitbesucher aus dem völkerrechtlich definierten Territorium der Ukraine.

Beobachter meinen, Putin sei nur auf einem Feld erfolgreich: in der Propaganda. Nun zeigt aber die miese Stimmung in der russischen Truppe, dass die Kreml-Propaganda selbst im eigenen Land immer seltener einen Hund hinter dem Ofen hervorlockt. Einem Bericht der TIME zufolge sympathisierten die Bosse von 17 Verwaltungsregionen mit dem Rebellen Prigoschin, während 21 Oblast-Chefs auf der Seite Putins standen. Dies lässt tiefe Risse im Herrschaftssystem erkennen, denn hier geht es um die Führungsebene im größten Flächenstaat der Erde. TIME beruft sich auf Papiere des russischen Innenministeriums, die mutmaßlich von Mitarbeitern des Inlandsgeheimdienstes FSB durchgestochen wurden.

Attacke gegen Georgien als Ablenkung?

Das Nachrichtenmagazin FOCUS wies am 9.7.2023 auf die Möglichkeit hin, dass Putin zwecks Ablenkung von seinem Desaster in der Ukraine nunmehr Georgien attackieren könnte. Georgien gehört keinem Bündnis an und ist dadurch schutzlos. Neutralität ist kein Schlüssel zur Sicherheit, sondern – im Gegenteil – eine Einladung an Aggressoren, den Frieden zu brechen.

Sicher wäre in einem solchen Fall damit zu rechnen, dass Putin den Befehl geben würde, durch Zwangsrekrutierungen von jungen Ukrainern aus den von ihm besetzten Gebieten die Mannschaftsstärke seiner Kolonialarmee zu erhöhen. Das würde zahlreichen weiteren Ukrainern das Leben kosten. Eingemauert in seine Phantasiebilder könnte der Despot danach nicht einmal begreifen, warum es mit der Kampfkraft seiner Truppen weiter in den Keller geht und Soldaten zur Gegenseite überlaufen. Die ambitionierten Träume von der Stalin-ähnlichen Weltmachtstellung eines durch Eroberungen immer größer werdenden Putin-Imperiums sind Gott sei Dank geplatzt.

Putin tobt. Laut Lukaschenko will er Prigoschin wegen Meuterei töten lassen. Dieses vom Führer beschlossene Lebensende des Rebellen (Putin: „Verrat ist unverzeihlich“) wird aus guten Gründen hinausgeschoben. Tod auf Raten. Die Bestrafung erfolgt in Etappen. Zunächst entzog der Kreml dem Wagner-Chef schnellstmöglich große Teile seiner finanziellen Mittel, schloss die als „Trollfabrik“ bekannte Firma Internet Research Agency und blockierte Prigoschin-nahe Online-Medien wie Ria Fan, Politics Today oder Neva News – wie die britische Zeitung Guardian berichtet.

Bargeldbündel und Goldbarren

Zudem versucht Moskau den Ruf des Rebellen zu schädigen, um seine Anhängerschaft zu verkleinern. So kursieren Fotos vom luxuriösen Wohnsitz des Wagner-Chefs, die laut russischen Medienberichten am Tag des Umsturzversuchs geknipst wurden. Dabei seien Bargeldbündel in Millionenhöhe sowie Kisten voller Goldbarren gefunden worden. Laut dpa soll so das Image des „einfachen Mannes aus dem Volk“ angekratzt werden; und es ist zugleich eine Warnung an andere, sich Putin nicht zu widersetzen.

Prigoschins Mutter und das Geld in der Schweiz

Prigoschin genoss viele Jahre das Vertrauen Putins und wurde in seinem Mafiasystem sehr reich. Laut Medienplattform Bellingcat vermehrte Prigoschin von 2011 bis 2019 sein Vermögen um drei Milliarden Dollar. Das stieg ihm zu Kopf. Alles, was heute für Putins Schergen in Russland greifbar ist, wird ihm jetzt weggenommen. Als Chef der weltweit aktiven Wagnersöldner ist er jedoch international aufgestellt und verfügt über erhebliche Vermögenswerte außerhalb Russlands; seine Mutter hat viel Geld in der Schweiz gebunkert, und die eidgenössische Justiz hat ihr bestätigt, dass sie nicht für ihren Sohn haftet. Ihr Reichtum bleibt unangetastet. EU-Sanktionen greifen nicht.

Prigoschin (Sohn) beschützt mit seiner extrem brutalen Söldnertruppe afrikanische Putschregierungen, beispielsweise in Mali und in der Zentralafrikanischen Republik. Dafür erhält er Bergbaukonzessionen, die Jahr für Jahr Gewinne abwerfen. Das kann ihm Putin wahrscheinlich nicht wegnehmen. Falls Prigoschin mit heilen Knochen aus Europa herauskommt, könnte er unbehelligt mit dem harten Kern seiner Wagnersöldner in der Zentralafrikanischen Republik leben. Zugegeben: es ist dort ziemlich heiß, aber schließlich gibt es Klimaanlagen und für die Stromrechnung kann ihm Mama aus der Schweiz Geld schicken.

Die Alternative zum Putinismus gewinnt für junge Russen an Attraktivität: Zu einem „zweiten Kanada“ könnte Russland werden, wenn es auf wahngetriebene Eroberungskriege verzichten würde. Das sagte der langjährige österreichische Verteidigungsminister und Nationalratspräsident Werner Fasslabend, als er kürzlich vor dem Salzburger Paneuropaforum in der Stiegl-Brauwelt sprach. Durch verifizierte Berichte steht zweifelsfrei fest: täglich wandert eine große Menge an jungen Russen ins Ausland ab. Viele sind gut ausgebildet. Ihre Zahl wird allmählich in den Millionenbereich steigen. c Stefan Haböck

Führerbefehle haben in Russland Gesetzeskraft. Prigoschin ist zum Tod verurteilt. Es bleibt ihm aber noch eine Galgenfrist, denn Putin braucht die Wagnersöldner für seinen Krieg. Sie haben sich als seine beste Mordmaschine bewährt. Am 10.7. kam – zunächst über französische Medien, danach von Putins Sprecher bestätigt – die Nachricht, dass es nach der Prigoschin-Revolte ein Treffen im Kreml gab, an dem rund 35 Wagner-„Offiziere“ teilnahmen; sie schworen Putin ewige Treue.

Wagner-Söldner schwören Putin Treue

Damit ist der Zweck der Veranstaltung glasklar: Putin will möglichst viele der in der Ukraine mordenden Söldner für sich gewinnen, denn als todesmutige Kämpfer sind sie schwer zu ersetzen. Sie sind für Putin besser zu gebrauchen als wehrpflichtige Russen, die gegen ihren Willen in die reguläre Armee hineingepresst wurden.

Das Drama nimmt seinen Lauf: Prigoschin wird im zweiten Akt zunächst höflich gebeten, seine afrikanischen Bergbauverträge auf Putin zu übertragen. Wenn er sich weigert, droht ihm der übliche Fenstersturz („ein Unfall“), es sei denn, er schafft es schnell genug, mit einem Privatjet oder – mit Perücke getarnt – in einem Fischerboot nach Afrika zu gelangen. Putin, der Gekränkte, hält sich an den Satz von Goebbels: „Rache ist ein Gericht, das kalt genossen wird“.

Wagner-truppen sind in Afrika im Einsatz

Laut The Kyiv Independent gab es nach dem Putschversuch sogar ein direktes Gespräch zwischen Jewgeni Prigoschin und Vladimir Putin – eine Art Kriegsverbrecherkonferenz. Von der französischen Libération wurden weitere Informationen geliefert. Prigoschin soll auch mit dem Chef der Nationalgarde, Viktor Zolotow, sowie dem Leiter des Auslandsgeheimdienstes, Sergey Naruschkin, kurz nach dem Umsturzversuch gesprochen haben. Im Kontext kann dies nur bedeuten, dass der Kreml Prigoschins Unterschrift braucht, um an seine Vermögenswerte im Ausland heranzukommen und möglichst auch Wagnersöldner in Afrika dem Moskauer Kommando zu unterstellen. Da Prigoschin das unredlich erworbene und im Ausland versteckte Geld selbst für sein eigenes Überleben braucht, wird er es kaum an seinen Mafiakollegen Putin verschenken.

Putin und seine Brieftasche

Weit mehr Vermögenswerte als Prigoschin hortet die Putin-Familie im Ausland. Das sind keine Kavaliersdelikte, denn es gibt kausale Zusammenhänge zwischen dem unendlichen Reichtum der Mafiaführer und der Armut des einfachen Volkes in Russland. Vladimir Putin besitzt offenbar sogar Immobilien in Österreich. Seine Töchter sowie engste Freunde der Familie kümmern sich darum. Vladimir Putin zählt zu den reichsten Menschen der Welt.

Als durch die „Panama Papers“ aufgedeckt wurde, dass allein in dieser lateinamerikanischen Steueroase zwei Milliarden Dollar Putin zuzuordnen sind, rückte ein armer Cellist aus St. Petersburg, dem dies alles angeblich gehört, ins Rampenlicht. Er hat den Spitznamen „Putins Brieftasche“. Sein Name ist Sergei Roldugin – ein Jugendfreund des heutigen Tyrannen im Kreml.

Dieser nahezu mittellose Musiker verwaltet Teile von Putins privaten Milliarden. Neben Panama spielt wiederum die Schweiz ihre übliche Rolle. Die Züricher Staatsanwaltschaft wollte wissen, ob vier Schweizer Bankangestellte legal tätig waren, als sie für den Cellisten, der offenkundig nur Treuhänder Putins ist, Konten eröffneten und verwalteten. (Näheres findet sich im Artikel „Vier Banker vor Gericht: Gelangten Putins Millionen über einen Strohmann in die Schweiz?“ (Die Presse, 8.3.2023.)

Putin hat Russland schwer geschadet

Ein Mann, der sich mit solchen russisch-schweizerischen Finanzsümpfen auskennt, ist der Ökonom Alfred R. Koch, der unter Boris Jelzin als Vize-Ministerpräsident in der Moskauer Regierung saß. Die Vorfahren seines Vaters stammen aus Deutschland (wo er jetzt lebt), seine Mutter ist Russin. Koch stellt dem Putinismus ein vernichtendes Zeugnis aus: „In letzter Zeit ist nichts Neues passiert. Außer, dass die russischen Invasoren in ein fremdes Land gekommen sind und sich nun an etwas klammern, das ihnen nicht gehört. Und sie wollen noch mehr an sich reißen“.

Ein Sieg für Russland ist ausgeschlossen

Dabei sei mit absoluter Sicherheit ein Sieg der russischen Armee ausgeschlossen. Koch: „Es gibt kein Verbrechen, das sie nicht schon begangen haben. Sie haben viel Geld ausgegeben und Hunderttausende ihrer eigenen Leute und andere getötet. Sie haben die Zukunft ihres Landes und den Ruf ihres Volkes zerstört. Und was haben sie im Gegenzug erreicht? Nichts. Nichts als den Hass und die Verachtung der Menschheit“.

Mit dem Salonwagen ins Exil nach China?

Falls Putin mit einem allerletzten Hauch an Anstand sein Amt aufgäbe, könnte er sich mit Salonwagen der Transsibirischen Eisenbahn ins Exil fahren lassen. Um dem Gericht in Den Haag zu entkommen, bliebe ihm nur noch – bei seinen Geistesverwandten Unterschlupf suchend – die Wahl zwischen Xi-Jinping-China oder Kim-Jong-un-Nordkorea.

Beitragsbild: In ihrem Abwehrkampf gegen den russischen Vernichtungsangriff wird die Ukraine von 54 Staaten unterstützt. Das größte Problem für Putins Truppen ist die extrem schlechte Versorgungslage seiner Soldateska, was absolut demoralisierend auf sie wirkt. c NATO