Wir sind keine Brüder

Im Vernichtungskrieg gegen die Ukraine bedient sich Russland vieler Narrative. Ein historisch neuer Narrativ ist die Behauptung, die Nato hätte eine rote Linie überschritten und würde Russland bedrohen. Seit Jahrhunderten bekannt ist die Geschichte von den Brudervölkern. Ebenso seit Jahrhunderten bekannt ist die Geschichte, Russland sei der ältere Bruder. Ein Blick auf die Fakten macht recht schnell klar, dass keiner dieser Narrative den Tatsachen entspricht. Historisches Faktum hingegen ist die Unterdrückung alles Ukrainischen durch Russland, und das seit Jahrhunderten. Von Anastasiia Hatsenko.

Russland hat viele Narrative darüber, warum es am 24. Februar mit der umfassenden Invasion der Ukraine begonnen hat. Einer davon kommt in Putins Worten vom November zum Ausdruck, dass Russland zum Handeln gezwungen wäre, wenn seine „roten Linien“ gegenüber der Ukraine von der NATO überschritten würden. Russland hat einen Krieg gegen die Ukraine begonnen, der als „militärische Spezialoperation“ bezeichnet wird, und erklärt, dass die von Nato-Mitgliedsstaaten an die Ukraine gelieferten Waffen die Sicherheit Russlands bedrohen. Der Kreml will auch die Ukraine „entmilitarisieren“ und „entnazifizieren“, indem er einen Völkermord auf dem Territorium eines souveränen und unabhängigen Staates anordnet. Trotzdem nennen einige Politiker, zum Beispiel Präsident Macron, Ukrainer und Russen weiterhin „Brüder“. Warum wir nie brüderlich waren und wie der Weg der Ukraine zur Vollmitgliedschaft in der Nato geht.

Wenn wir von vorne anfangen, also von dem Moment an, in dem sich die Volksgruppen gebildet haben, dann wird schon hier deutlich, dass wir unterschiedliche Wurzeln haben. Die Ukrainer sind mit den meisten slawischen Stämmen verbunden. Die Russen haben finno-ugrische Wurzeln. Die Moskowiter und später die russischen Zaren verstanden, dass es ohne große Vergangenheit unmöglich sei, eine große Nation, ein großes Imperium zu schaffen. Dazu musste man seine historische Vergangenheit verschönern und sich sogar die eines anderen aneignen. Daher haben es sich die Moskauer Zaren zur Aufgabe gemacht, eine offizielle Mythologie des Russischen Reiches zu schaffen.

Eine lange Geschichte der Täuschung

Dies hätte ignoriert werden können, wenn diese Mythologie nicht die grundlegenden Interessen der Ukraine berührt hätte. Seit Jahrhunderten versuchen sie, den Menschen verständlich zu machen, dass der russische Staat und das russische Volk ihren Ursprung im Großherzogtum Kyiv haben, dass die Kyiver Rus die Wiege dreier brüderlicher Völker sei – der Russen, der Ukrainer und der Weißrussen, dass die Russen nach dem Gesetz der „älteren Bruderschaft“ das Recht hätten, Erbe der Kyiver Rus zu sein. Wie können wir jedoch von einem „älteren Bruder“ sprechen, wenn dieser „ältere Bruder“ später geboren wurde? So entstand 882 die Kyiver Rus, während Moskau 1147 entstand.

Unterdrücken und versklaven

Um sich die Geschichte der Kyiver Rus anzueignen und diesen Diebstahl fortzusetzen, mussten die Russen das ukrainische Volk unterdrücken, versklaven, seines Namens berauben und es zu Tode hungern lassen. An dieser Stelle ist es wichtig, über das Sprachenproblem zu sprechen. Moskau hat immer versucht sicherzustellen, dass die ukrainische und die russische Sprache ähnlich sind. Die Wahrheit ist, dass Ukrainer die belarussische, polnische, tschechische und slowakische Sprache leicht verstehen können. Russen verstehen jedoch weder Ukrainisch noch die oben genannten Sprachen. Ukrainisch ist dem Weißrussischen am ähnlichsten, da sie 29 gemeinsame Merkmale aufweisen. Ukrainisch hat auch 23 Gemeinsamkeiten mit der tschechischen und slowakischen Sprache.

Neben dem Versuch, Ähnlichkeiten aufzuzeigen, versuchte Russland, alle Ethnien zu assimilieren (russifizieren), die es vom 16. bis zum 19. Jahrhundert eroberte: Ukrainer, Polen, Balten, Finnen und viele andere Nationen. Nachdem Russland im frühen 18. Jahrhundert den größten Teil der Ukraine unter seine Kontrolle gebracht hatte, beschloss es, die ukrainische Identität zu trennen.

Ukrainisch wurde als Sprache verboten

Russland beschränkte den Gebrauch der ukrainischen Sprache mit zwei Dokumenten. Das Valuev-Rundschreiben von 1863 war ein geheimes Dekret des Innenministers des Russischen Reiches Pjotr Valuev, durch das viele Veröffentlichungen (religiöse, pädagogische und literarische, die für die Verwendung in der Grundschulung der Alphabetisierung der Bürger empfohlen wurden) in ukrainischer Sprache verboten waren.

Das zweite war der Ems Ukaz. Es war ein geheimes Dekret von Zar Alexander II. von Russland, das 1876 erlassen wurde und den Gebrauch der ukrainischen Sprache in Druckwerken verbot, mit Ausnahme des Nachdrucks alter Dokumente.

Russifizierung in der Sowjetzeit

Als die Ukraine Teil der UdSSR war, ab 1953, wuchs die Zahl der russischsprachigen Schulen in der Ukraine, und sie waren finanziell besser gestellt. Die Anzahl der Klassen in russischer Sprache und Literatur an ukrainischsprachigen Schulen hat zugenommen. So konnten Schüler in russischsprachigen Schulen in der Ukraine auf ihren Antrag und den Antrag ihrer Eltern vom Erlernen der ukrainischen Sprache befreit werden. Insbesondere wurde ein solcher Befehl durch den Beschluss der Werchowna Rada der UdSSR vom 17. April 1959 „Über die Stärkung der Verbindung zwischen Schule und Leben und die weitere Entwicklung des öffentlichen Bildungswesens in der Ukrainischen SSR“ erlassen. Wegen dieser Russifizierung sprechen viele Ukrainer immer noch Russisch, aber nicht wegen der Ähnlichkeit zwischen den Sprachen.

Unterschiede zwischen Russen und Ukrainern

Seit ihren Anfängen versucht die russische Propaganda zu beweisen, dass Ukrainer und Russen ein Volk sind. Soweit sich Kultur und Mentalität von Ukrainern und Russen unterscheiden, haben die ukrainischen Doktoren der Philologie vier Kriterien identifiziert: die Einstellung zur Religion, zur Natur, zu Frauen und zum öffentlichen Leben. Unsere Haltung gegenüber der Nato ist ein Beispiel für die aktive Teilnahme der Ukrainer am öffentlichen Leben, und dies ist ein weiterer Indikator für unseren Unterschied zu den Russen.

Der Prager Gipfel im Jahr 2002 bekräftigte den Wunsch der Ukraine, Mitglied des Bündnisses zu werden, und verabschiedete einen Nato-Ukraine-Aktionsplan. Am 22. Februar 2005 fand eine Sitzung der Nato-Ukraine-Kommission auf Ebene der Staats- und Regierungschefs statt. Präsident Juschtschenko hat versichert, dass die Ukraine ihren Kurs in Richtung euro-atlantischer Integration mit der Aussicht auf eine Vollmitgliedschaft in der Nordatlantischen Allianz fortsetzen wird. Nachdem Viktor Janukowitsch Präsident geworden war, wurden jedoch Gesetze verabschiedet, die eine Politik der Blockfreiheit vorsahen, um der Ukraine den Beitritt zum Nordatlantischen Bündnis unmöglich zu machen.

2014 war die Ukraine blockfrei

Die Ukraine blieb bis 2014 ein blockfreier Staat. Die Revolution der Würde brachte viele Veränderungen im politischen und sozialen Leben der Ukrainer. Unter den Bürgern der Ukraine brach eine Revolution gegen die illegale Auflösung einer friedlichen Kundgebung von Studenten und Bürgeraktivisten aus, die am 21. November 2013 als Reaktion auf die Entscheidung der Regierung begann, die Vorbereitungen für die Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens zwischen der Ukraine und der EU auszusetzen.

Revolution der Würde als Zeichen für Europa

Die Revolution der Würde hat Russland auch gezeigt, dass die Ukrainer den Weg der Annäherung an westliche Partner wählen, aber nicht an den Kreml. Diese Unzufriedenheit mit der russischen Führung führte zur Besetzung der Krim und zum Beginn der militärischen Aggression in der Donbas-Region. So verabschiedete die Werchowna Rada der Ukraine im Jahr 2015 Änderungen bestimmter Gesetze der Ukraine in Bezug auf die Weigerung der Ukraine, eine blockfreie Politik umzusetzen. Seitdem befindet sich die Ukraine wieder in ihrem Prozess der europäischen und atlantischen Integration.

Bitte an die Nato den Luftraum zu schliessen

Die „Enttäuschung“ der Ukraine über die Nato (oder die Verweigerung, der Nato beizutreten, wie von Russland gefordert) steht in letzter Zeit ganz oben auf der öffentlichen Agenda. Die Ukraine bat die Nato, ihren Luftraum zu schließen oder/und der Ukraine Kampfflugzeuge zu geben. Es ist schwer zu sagen, dass die Ukrainer mit der Untätigkeit der Nato in diesem Bereich zufrieden wären.

Außerdem war im März, nach den Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland in Istanbul zu hören, dass einer der Vorschläge der ukrainischen Seite darin besteht, dass die Ukraine durch einen Status der Blockfreiheit und ohne Atomwaffen sowie ohne ausländische Militärbasen, aber mit Sicherheitsgarantien (Staaten des UN-Sicherheitsrates +), nach den Grundsätzen des Artikels 5 des Nordatlantikvertrags gesichert werden kann. Ist die Ukraine bereit, ihren strategischen Kurs aufzugeben, ein Nato-Mitglied zu werden, wie es Russland vor Beginn einer umfassenden Invasion gefordert hat und jetzt verlangt, oder könnte dies nur ein Element der Verhandlungen mit Russland sein?

Es ist nicht so einfach, Kyivs Beitrittsbestrebungen aufzugeben. Und es ist wichtig, sich daran zu erinnern, dass es nicht die Nato war, die die Invasion verursacht hat. Also reicht die Weigerung, dem Bündnis beizutreten, nicht aus, um Putin zufrieden zu stellen. Darüber hinaus sind die Bestrebungen der Ukraine, der Nato beizutreten, in der Verfassung verankert. Es ist gar nicht so einfach, die Verfassung zu ändern. Im Kriegsrecht und im Ausnahmezustand in der Ukraine ist es geradezu unmöglich. Darüber hinaus ist es ein ziemlich langer Prozess, der Abstimmungen in zwei Sitzungen der Werchowna Rada und eine Zustimmung des Verfassungsgerichts verlangt. Es ist also ein langer Prozess, auch wenn ein friedlicher Himmel über der Ukraine herrscht.

Gleichzeitig hielt Präsident Zelensky fest, dass solche Änderungen nur mit Zustimmung der Ukrainer in einem Referendum berücksichtigt werden können. Auch dies ist nicht möglich, wenn sich das Land im Krieg befindet. Die logische Frage ist, können die Ukrainer die Option der Neutralität für das Land wählen und den Kurs des Nato-Beitritts aufgeben? Die Antwort findet sich, wenn man sich die ukraineweiten Umfragen der Rating Group Ukraine ansieht. Sie zeigen, dass vor der großangelegten Invasion am 16. und 17. Februar 62 Prozent der Ukrainer die euro-atlantische Integration befürworteten. Am 1. März wollten 76 Prozent der Ukrainer ihr Land als Mitglied der Nato sehen.

Waffen helfen der Armee durchzuhalten

Möglicherweise werden die nächsten Umfragen weniger Unterstützung zeigen, obwohl die gemeinsamen Übungen mit der Nato, der Austausch von Informationen und die Lieferung von Waffen durch einige Nato-Mitglieder, der Armee helfen so stark zu sein. Aber es liegt immer noch Frustration in der Luft über die mangelnde Bereitschaft der Nato, den Himmel zu schließen (gemeint ist damit eine Flugverbotszone, Anmerkung der Redaktion), sowie aufgrund des Zögerns bei der Bereitstellung von Kampfflugzeugen. Präsident Zelensky schlug auch die Gründung einer neuen Organisation U-24 vor. Seiner Meinung nach sollte es sich um eine zwischenstaatliche Organisation handeln, die Konflikte zwischen Ländern sofort beenden kann.

Inzwischen versteht die Ukraine die Bedeutung der Zusammenarbeit mit der Nato im Zusammenhang mit gemeinsamen Übungen, Informationsaustausch und der Teilnahme der Ukraine an Friedensmissionen. Daher sollten wir damit rechnen, dass der strategische Kurs Richtung Nato beibehalten wird, die Ukraine aber taktisch versuchen wird, neue Garantien für ihre Sicherheit zu finden.

Anastasiia Hatsenko ist ukrainische Expertin für euro-atlantische Zusammenarbeit bei der Denkfabrik Adastra und Vorsitzende der Paneuropa-Jugend Kyiv.

c Beitragsbild: Europäische Union Christophe Licoppe