Europa wird 60 – oder?

Der 25. März 2017, irgendwo in Mitteleuropa. Wer an diesem Tag die sozialen Medien beobachtet hat, hat zwei Phänomene gesehen, die einander entgegenlaufen. Die einen haben ein rundes Jubiläum gefeiert – die anderen wurden nicht müde zu betonen, dass die EU nicht Europa ist. Aber ist das wirklich ein Widerspruch? Ein Essay von Philipp Jauernik, Bundesvorsitzender der Paneuropa-Jugend Österreich.

 

Ein Blick zurück

1957, ein denkwürdiges Jahr. Mit Sputnik beginnt die Ära der Raumfahrt. In Ungarn finden Schauprozesse gegen gegen Beteiligte am Volksaufstand von 1956 statt. In Großbritannien wird die Todesstrafe eingeschränkt. Die Sowjetunion gibt den Start ihrer ersten Interkontinentalrakete bekannt. In Deutschland wird der Bund der Vertriebenen gegründet. In der der DDR wird von nun an ungesetzliches Verlassen ihres Territoriums als Republikflucht geahndet. In Österreich startet die regelmäßige Fernsehausstrahlung. Auf einem Kirchenfest in Liverpool begegnen einander zum ersten Mal John Lennon und Paul McCartney. Der FC Bayern München gewinnt erstmals den DFB-Pokal. In Portugal wird Männern das Schwimmen in Badehosen erlaubt.

 

Österreichs Bundeskanzler heißt Julius Raab, der Deutschlands Konrad Adenauer. In Italien beginnt das Jahr mit Antonio Segni und endet mit Adone Zoli. Diktatorischer Staatschef Jugoslawiens ist Josef Broz Tito, in Moskau herrscht Nikita Sergejewitsch Chruschtschow. Ja, das ist lange her.

 

Und die Römischen Verträge? Zur Erinnerung: Zuvor bestand die Montanunion. Österreich war davon nicht Teil, Moskau hätte das nicht gestattet. Sie war auch anders ausgerichtet – zuvorderst brachte sie wesentliche (europäische) Kriegsparteien des Zweiten Weltkriegs an einen Tisch. Eine historische Leistung, deren Dimension insbesondere Spätergeborenen nicht einfach zu erfassen ist.

 

Welche Rolle hatten die Verträge?

Diese Verträge begründen die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) sowie die Europäische Atomgemeinschaft (EURATOM) und – was als entscheidend betrachtet werden darf – legen eine gemeinsame parlamentarische Versammlung, einen gemeinsamen Gerichtshof und einen gemeinsamen Wirtschafts- und Sozialausschuss fest, auch für die EGKS. Mit diesen Einrichtungen gehen sie über eine reine Intergouvernementalität hinaus. Hier findet zum ersten Mal seit mehreren Jahrhunderten so etwas wie eine Kompetenzabgabe der zentralistischen Nationalstaaten statt.

 

Diese gemeinsamen Organe stellen den Beginn der Europäischen Gemeinschaften (EG) dar. Obwohl die jeweiligen Gemeinschaften operieren zwar auf Basis ihres jeweiligen Gründungsvertrages, nach und nach setzt sich aber die Bezeichnung EG, auch als Singular für „Europäische Gemeinschaft“, als Synonym durch. Als der Vertrag von Maastricht Jahrzehnte später die Europäische Union konstituiert, ersetzt die Bezeichnung „EU“ in der Wahrnehmung die längst als eins empfundenen Begriffe ab – ganz so, als wäre hier auch eine Synonymität für das vereinigte Europa gegeben. Letzteres ist ja der am Jubiläumstag so stark hinterfragte Punkt.

 

Europa – die Braut, die sich wandelt

Nehmen wir einen Vergleich zur Hand – wir stellen uns ein Ehepaar vor, das eine Tochter bekommt. Diese Tochter erhält einen Namen. Den Vornamen suchen die Eltern aus (sagen wir „Laetitia“), der Familienname kommt aus der Familie, sagen wir Meier. Als die glücklichen Eltern ihr Neugeborenes erstmals sehen, ist noch völlig unklar, wie es sich entwickeln wird, welche Talente es haben wird, welchen Beruf es einst ergreifen wird, was seine Hobbys sein werden.

 

Wenn diese Tochter heiratet und den Namen ihres Mannes annimmt (vielleicht polnisch Jednostka), ist sie einen weiten Weg gegangen. Sie heißt anders als bei ihrer Geburt. Sie sieht völlig anders aus, ist wesentlich größer und hat Fähigkeiten entwickelt, die bei der Geburt angelegt, aber nicht absehbar waren. Und doch wird niemand behaupten, es handle sich um zwei unterschiedliche Menschen. Und niemand wird sie für das Anhängsel ihrer Eltern halten.

 

Vom Ursprung ins Heute

Philipp Jauernik ist Bundesvorsitzender der Paneuropa-Jugend Österreich.

Philipp Jauernik ist Bundesvorsitzender der Paneuropa-Jugend Österreich.

 

So ähnlich ist das mit Europa. Europa ist nur ein kleiner Teil der eurasischen Landmasse, und wird doch nicht für ein Anhängsel Asiens gehalten. Die Römischen Verträge haben – quasi eine Geburt – Gebilde geschaffen, die natürlich nicht mit der heutigen EU gleichzusetzen sind. Und doch haben sie Elemente in sich (etwa Parlament, Kommission), die sich in die heutige EU fortentwickelt haben. Beim Säugling wären das Ohren und Nase – in Form und Funktionalität nicht 1:1 wie beim Erwachsenen, aber konsequent fortgesetzt.

 

Europa ist kein rein geographischer Begriff, auch kein rein politischer. Die EU umfasst auch nicht ganz Europa. Und auch historische, kulturelle, politische, wirtschaftliche, rechtliche, ideelle und identitäre Aspekte sind zu berücksichtigen. Klar ist aber, dass die heutige Union ohne die Römischen Verträge undenkbar ist – ebenso ohne seine Geschichte, Flora und Fauna, seine Kulturen und seine Vielfalt.

 

Gestern haben wir den 60. Jahrestag eines historischen Ereignisses erlebt. Viele von uns haben ihn gefeiert. Ich persönlich habe mich dagegen entschieden, wie ein Rumpelstilzchen auf die Unterschiede zu pochen. Wer Europa kennt weiß, wie vielfältig es ist – und wie klein diese Unterschiede erscheinen, wenn man sie etwa aus China, Namibia oder Chile betrachtet.

 

Der gestrige Tag war ein Freudentag, weil die Grundlage für etwas Großes geschaffen wurde, das nur den politischen Rahmen für etwas noch Größeres bildet. Europa ist größer als die EU. Es ist Heimat, es ist ein Geist, es ist ein Gedanke. Die heutige EU kann das nicht erfassen.

 

Das Heute als Grundlage für ein besseres Morgen

Auch das Wiener Rathaus und sein politisches System ist nur begrenzt geeignet, mein Verhältnis zu meiner Heimatstadt zu definieren. Das ist auch nicht die Aufgabe eines politischen Systems. Es bildet nur einen Rahmen. Innerhalb dieses Rahmens sind wir angehalten, Dinge zu definieren, die unser Zusammenleben prägen. Darin hat die heutige EU zum Teil gute, zum Teil mangelhafte Dienste geleistet.

 

Die Reise ist noch nicht zu Ende. Vor uns liegt noch viel Arbeit. Wir tun gut daran, uns daran zu machen und ernsthaft und aufrichtig zu diskutieren, welche Verbesserungen es braucht. Der Streit um die Nomenklatur bringt uns dabei nicht weiter. Wir alle wissen, dass die EU nicht 1:1 Europa ist. Wir alle wissen, dass auch Thomas von Aquin Europäer war, obwohl er lange vor den Römischen Verträgen lebte. Gerade er ist aber ein gutes Vorbild, wenn wir die seriöse Debatte führen wollen. Damit ist er nicht allein, Europa hat einen unerschöpflichen geistigen Reichtum hervorgebracht. Das zu nutzen, ist unsere historische Pflicht. Für uns. Für Europa. Für unsere Zukunft.