Erbe der Sowjetunion

In einem Artikel vom 27. August 1994 schreibt Otto von Habsburg über die bereits damals sichtbaren Zeichen einer Erneuerung der erst kurz davor aufgelösten Sowjetunion. Otto von Habsburg beschreibt in dem Artikel auch die fehlende Bereitschaft des Westens, die von Moskau unabhängig gewordenen Länder rasch in die westlichen Sicherheitsstrukturen einzubinden.

Die jüngsten öffentlichen Erklärungen der führenden Persönlichkeiten Rußlands schlagen zunehmend einen Ton an, der aus der Vergangenheit erinnerlich ist. Während sie sich noch immer nicht offiziell auf das Erbe der Sowjetunion berufen, besteht kein Zweifel darüber, daß viele Aspekte russischer Politik eine Resowjetisierung ankündigen. 

Das bemerkt man vor allem auf dem Gebiet Außenpolitik, eine Tatsache, die die Beunruhigung der Nachbarn Rußlands erklärt. Besonders gilt das für die Zeit seit dem unseligen Beschluß der NATO im Januar, der den Völkern, die ihre Freiheit wiedererlangt haben, klarmachte, daß für sie in absehbarer Zukunft eine Mitgliedschaft in der westlichen Allianz nicht in Frage käme. Auch sei der Westen nicht bereit, ihre Sicherheit zu garantieren. Die Allianz für den Frieden ist nicht einmal das Papier wert, auf dem sie geschrieben steht. 

Die Erklärungen der Führer Rußlands zeigen eindeutig, daß sie entschlossen sind, das Erbe der Sowjetunion anzutreten. 

Dieses Erbe ist der angebliche Rechtstitel für Moskaus Forderung, als Großmacht anerkannt zu werden. Hier wird an die Jahre der „großen patriotischen Kriege“, also der Stalin-Zeit, angeknüpft. Die Führer Rußlands wissen, daß heute ihr Staat alles, nur keine Groß- oder Supermacht ist. Das Anliegen des Kreml, etwa den G-7-Staaten als achtes Mitglied anzugehören, entspricht nicht den Realitäten der Gegenwart. Das gleiche gilt für die ständige Forderung, man müsse Rußland mehr respektieren, aber auch für die Drohungen, die ein Schirinowski brutal äußert, die aber auch zwischen den Zeilen der Erklärungen von Jelzin zu finden sind. Bezeichnend ist auch, daß der Kreml in den Beziehungen zu Nachbarstaaten systematisch nach dem alten sowjetischen System vorgeht. Es werden dreist Tatsachen behauptet, von denen jeder weiß, daß sie nicht stimmen. Auch die Sprache wird sowjetisch. 

Die westliche Politik macht sich durch ihre Schwäche und mangelnde Treue zu eigenen Prinzipien zum Mitschuldigen. Eine klare Unterstützung der befreiten Völker hätte die Entwicklung hin zur Sowjetunion verhindern können. So aber glauben heute die Führer des Bündnisses zwischen den alten Kräften des Kommunismus und dem russischen Nationalismus, daß sie durchaus die Möglichkeit haben, die UdSSR mit neuem Namen wieder zu errichten. 

Überhaupt ist festzustellen, daß die Einheitsfront zwischen Altkommunisten und Nationalisten in Rußland heute bereits eine Realität ist. Ihr gehört aller Wahrscheinlichkeit nach die politische Zukunft. Hinter General Rutskoi findet man in den Führungsgremien Altstalinisten wie Zyuganov, Konstantinov und den extremistischen General Makashov. Sie bereiten die nächste Präsidentenwahl in Rußland vor. In dieser Perspektive ist Schirinowski nur ein Teil des Gesamtbildes. Rutskoi ist weit mehr eine Gefahr für die Welt als der maulstarke Demagoge. 

Das Beunruhigende an diesem Szenario ist, daß man im Westen nicht bereit ist, die Tatsachen zur Kenntnis zu nehmen. Man verhandelt vor allem darüber, wie man Rußland entgegenkommen bzw. Jelzin an der Macht erhalten kann. 

Mehr denn ein Land ist bedroht. Das gilt an erster Stelle für die baltischen Staaten. Wenn man die Sprache der russischen Presse und Politiker beachtet, wird man erkennen, daß hier systematisch der Vorwand für eine Aggression gesucht wird. Schon jetzt behauptet man, daß in den baltischen Staaten der Nationalsozialismus wieder neu ersteht. Es wird das mit alten Bildern belegt, die aus der Zeit stammen, als Hitlers Mannen im Einvernehmen mit den Russen die baltischen Völker verraten haben. 

Rußland tritt somit das Erbe Stalins an. Im Westen wird man sagen, es sei nicht möglich gewesen, diese Entwicklung vorherzusehen. 

Ein Sachverständiger im militärischen Nachrichtendienst hat einmal gesagt, Menschen seien unfähig, ein Geheimnis zu bewahren. Der einzige Unterschied zwischen Amerikanern und Russen sei es, daß ein Staatsgeheimnis in Amerika sicherlich am nächsten Tag in der „Washington Post“ oder der „New York Times“ erscheint. 

In Rußland käme es drei Wochen später in einer Provinzzeitung heraus. Dieser Satz spricht eine tiefe Wahrheit aus. Leider, so wie man seinerzeit nicht bereit war, „Mein Kampf“ zu lesen, übersieht man heute die russischen Provinzzeitungen. Ihre Lektüre wäre für so manchen Illusionisten heilsam. 

c Beitragsbild: creativesforukraine.org Alexandra Dzhiganskaya