Von „nützlichen Idioten“ sprach schon Lenin

Die Maskierung der Marxisten-Leninisten als „antifaschistisch-demokratische Kräfte“ war eine Idee Stalins, die Ramelow in Thüringen anwendet, während in seiner Partei der SED-Geist auflebt, wie die Strategietagung in Kassel am 1. März 2020 zeigte: soll man „das eine Prozent der Reichen erschießen“ oder bloß versklaven, wurde beraten. Von Ludwig Bayer.

Bizarr ging es in der russischen „Kominternschule“ zu, die der junge Österreicher Wolfgang Leonhard vor acht Jahrzehnten besuchte. Das Kürzel „Komintern“ bezeichnete die Kommunistische Internationale. Leonhards Mutter war eine fanatische Wiener Kommunistin; sein Vater stand als sowjetischer Diplomat in Stalins Diensten. Aufgabe der „Kominternschule“ war die Heranbildung von politischen Nachwuchskräften für den Einsatz in Ländern außerhalb der Sowjetunion. Schließlich sollte ja der gesamte Planet Erde mit Marxismus-Leninismus beglückt werden.

Wolfgang Leonhard erinnerte sich später an den hilflosen Versuch seiner kommunistischen Lehrer, ihren gehorsamen Schülern den Sinn des Lebens zu erklären. Ein Streichholz wurde entflammt. Die roten Erzieher und ihre Zöglinge beobachteten, wie das Hölzchen abbrannte, die Flamme kleiner wurde und schließlich erlosch. So verlaufe das sinnlose Leben nichtkommunistischer Menschen, dozierte ein stalinistischer Lehrer. Die Kämpfer für eine bessere kommunistische Welt seien hingegen von Sinn erfüllt, denn Marxisten-Leninisten handelten in Übereinstimmung mit dem „Geschichtsgesetz“, dem zufolge die Menschheit von Stufe zu Stufe höher schreite –, bis sie in der siegreichen kommunistischen Gesellschaft Glück und Erfüllung und Vollendung finde.

STALIN HOFFTE AUF DEN ABZUG DER AMERIKANER

Leonhard saß in einer sowjetischen Militärmaschine, die im April 1945 (kurz vor Hitlers Selbstmord) in Frankfurt an der Oder landete. Den Auftrag der „Gruppe Walter Ulbricht“, die in diesem Flugzeug saß, legte Stalin fest: sie sollte die Errichtung der kommunistischen Herrschaft in Deutschland vorbereiten. Im ersten Schritt ging es darum, in der sowjetischen Besatzungszone im östlichen Teil Deutschlands eine neue Verwaltung mit kooperationswilligen Befehlsempfängern aufzubauen; später sollte dieses System – nach dem von Stalin erhofften Abzug der Amerikaner aus Europa – auf ganz Deutschland ausgedehnt werden.

Mit Blick auf diese gesamtdeutsche Zielsetzung ordnete Stalin an, die Kommunisten sollten sich nicht gleich offen deklarieren, sondern aus propagandistischen und taktischen Gründen sagen, sie seien „antifaschistisch-demokratische Kräfte“. Dies würde es leichter machen, anpassungsbereite Leute anzuheuern, die sich von Kommunisten steuern ließen. Sogar der Name KPD wurde geopfert. Nach dem Beitritt einiger sozialdemokratischer Kollaborateure wie Otto Grotewohl kam es zur feierlichen Gründung einer neuen Partei: der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED).

PROPAGANDISTISCHE UMBENENNUNGEN

In Wahrheit handelte es sich bloß um die Umbenennung der KPD in SED. Bis März 1990 regierte die SED diktatorisch. In diesem Monat fanden die ersten freien Wahlen in der DDR statt. Die SED erhielt 18 Prozent und trat ab. Egon Krenz war damals Sicherheitschef der SED und wollte notfalls unter Einsatz von Panzern den Machtverlust der Kommunisten verhindern. Doch der oberste Kommunist Europas, Michail Gorbatschow, pfiff Krenz zurück. Die Panzer blieben in den Kasernen und ein von der SED in Kauf genommenes Massaker strich man vom Spielplan. Gorbatschow konnte kein Blut sehen.

Die taktisch-propagandistischen Umbenennungen wurden fortgesetzt. Da es Helmut Kohl verabsäumte, die SED zu verbieten, lebt sie bis heute weiter. Es ging ähnlich zu wie bei den Häutungen einer Schlange: so wie aus der KPD die SED geworden war, so erfolgte unter Gregor Gysi der nächste Firmenschildwechsel – von SED zu PDS (Partei des demokratischen Sozialismus). Unter der neuen Haut wand sich die alte Schlange. In einem Gerichtsverfahren, in dem es um das Parteivermögen der SED ging, betonte Gysi unter Eid, dass die PDS mit der SED identisch ist und daher mit Recht den Schatz der DDR-Kommunisten beanspruche.

DIE ROLLE DER PARTEIEN IN DER SOGENANNTEN DDR

Ein prominenter Überläufer aus der SPD, Oskar Lafontaine, bot Anlass, die Partei ein weiteres Mal umzubenennen: aus der PDS wurde die Partei „Die Linke“. Ihr erfolgreichster Vertreter ist Bodo Ramelow, der jetzt in Thüringen zusammen mit SPD, Grünen und de facto auch CDU regiert. Man muss wissen, dass die Ost-CDU auf Weisung Stalins gegründet wurde, weil es in seine gesamtdeutschen Pläne passte, im Scheinparlament der DDR („Volkskammer“) Fraktionen zu präsentieren, die ähnliche Namen trugen wie echte Parteien im freien Westen, beispielsweise „Christliche Demokraten der DDR“ oder „Liberaldemokraten“. DDR-Untertanen durften solchen Scheinparteien, die praktisch von der SED gesteuert wurden, sogar beitreten und dort Propagandareden hören, in denen behauptet wurde, die Werte des Christentums stimmten mit den Zielen des Marxismus-Leninismus überein.

ANGELA MERKEL UND DAS „KLEINERE ÜBEL“

In diesem System der DDR wuchs Angela Merkel auf. Das prägt sie. Heute drohe in Thüringen die größere Gefahr von rechts, glaubt sie. Ramelows Partei KPD/SED/PDS/Linke erscheint ihr als das „kleinere Übel“. Zum Hintergrund dieses Sittengemäldes gehört die Feststellung, dass 1990 sämtliche Mitglieder der Ost-CDU automatisch zu Mitgliedern der Christlich-Demokratischen Union im freien wiedervereinigten Deutschland wurden. Knapp vor dem Fall der Berliner Mauer 1989 stellte Honecker-Nachfolger Egon Krenz in der „Volkskammer“ den Antrag, das brutale Vorgehen der chinesischen Kommunisten gegen Oppositionelle auf dem Pekinger Platz des Himmlischen Friedens gutzuheißen. Die Abgeordneten der Ost-CDU stimmten in trauter Eintracht mit der stalinistischen SED zu. Ziel war die Abschreckung der Opposition in der DDR. Die Thüringer CDU-Vertreter saßen in Treue fest im Boot der Stalin-Epigonen.

Wie viele Menschen wären durch Stalins Hand noch gestorben, wenn er länger gelebt hätte? Diese Frage ist brandaktuell, denn der seit 1993 im Amt befindliche und mehrfach wiedergewählte russische Kommunistenchef Sjuganow denkt laut nach. Er bedauert, dass Stalin nicht länger gelebt habe. Ein paar weitere Jahre unter Stalin, sagt Sjuganow, hätten genügt, um „mit den Kosmopoliten aufzuräumen“. Josef Stalin meinte, wenn er abschätzig von „Kosmopoliten“ sprach, stets die Juden. Sjuganow weiß das natürlich. Sein Ausspruch schwimmt auf Wogen des russischen Antisemitismus. Wenn Sjuganow die „Kosmopoliten“ hasst, unter ihnen „aufräumen“ will und in diesem Zusammenhang den Namen seines Idols Stalin beschwört, dann heißt dies im Klartext: Der erste nachsowjetische Führer der Kommunisten Russlands denkt an eine Wiederbelebung der Methoden Stalins. Eine todernste Bedrohung.

STALINS PLAN ZUR VERNICHTUNG DER JUDEN

Dem Historiker Yehuda Bauer ist dies bewusst. Er zählt zu den wissenschaftlichen Säulen der Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem. Am 13.11.2002 sprach er in Berlin auf der Claims Conference. In seinem Vortrag wies er auf dreifache Gefahren hin: durch den Nationalsozialismus, durch den stalinistischen Kommunismus und durch den islamistischen Djihadismus. Die von Stalin geplante und in seinen letzten Lebensmonaten in Gang gesetzte Verbannung von Juden nach Sibirien erfolgte „klarerweise unter Bedingungen, die ein Massensterben verursacht hätten. Der radikale Islamismus, das muss man scharf betonen, spricht gegenüber den Juden die Sprache des Genozids, so wie es die Nazis – und unter Stalin die Kommunisten – taten. (…) Wir haben gelernt, wenn Menschen an eine Ideologie glauben und sie dauernd sich selbst und anderen einpauken, so wollen sie auch wirklich das, was sie sagen, in die Tat umsetzen.“

In seinen letzten Lebensjahren beschloss Stalin Kursänderungen. Er hob die Rolle des sowjetischen Staates hervor und verlieh ihm damit mehr Gewicht gegenüber der Partei. Und er verschob die politischen Akzente in Richtung Nation. In Abweichung von Marx und Lenin lehrte Stalin, die Nation lasse sich nicht durch ihren „sozio-ökonomischen Unterbau“ erklären. Sie bilde eine eigenständige Größe. 1952 forderte Stalin in einer Grundsatzrede seine Anhänger in aller Welt auf, die Nation in ihrer Bedeutung zu erkennen und nationale Fragen zum Gegenstand politischer Initiativen zu machen. Gleichzeitig verschärfte sich Stalins Ton gegen die Juden, die er als „wurzellose Kosmopoliten“ und als potenzielle Verräter bezeichnete. In der Endphase seines Lebens ließ Stalin zahlreiche Ärzte und Intellektuelle jüdischer Herkunft erschießen. Er warf ihnen „Verschwörungen“ vor. Im Lexikon der Völkermorde des Bremer Wissenschaftlers Gunnar Heinsohn findet sich auf Seite 312 folgender Vermerk über Stalin: „Demozidpläne setzen sich ohne Unterbrechung fort. Noch im Sterbemonat ist er mit Plänen für die Ausrottung der Juden der Sowjetunion befasst.“

DAS UNBEACKERTE BLUTROTE GENOZID-FELD

Der russisch-jüdische Germanist Efim Etkind schrieb: „Aber am 5. März 1953 starb Stalin. Das jüdische Volk der Sowjetunion war einstweilen gerettet“. Etkind steuerte das Vorwort zur Dokumentation „Rotbuch: Stalin und die Juden“ von Arno Lustiger bei. Dieses Buch werde „die Leser im Westen zu verstehen zwingen, dass die sowjetkommunistischen Verbrechen gegenüber den Juden eine andere Art von Shoah sind“. Deportationen nach Sibirien und die von Stalin befohlenen Massenerschießungen von Juden im August 1952 bildeten offenbar den ersten Akt eines „anrollenden roten Holocaust“ (Etkind).

Stalin ließ zur Einstimmung Hetzartikel publizieren. Ein Beispiel: Am 28.01.1949 verwendete die Parteizeitung Prawda neben der üblichen Bezeichnung „wurzellose Kosmopoliten“ auch den der nationalsozialistischen Propaganda entlehnten Begriff „Parasiten“.

DIE GESPIELTE UNSCHULD DER KOMMUNISTEN

Wie kein anderer Mensch hat Stalins Tochter Swetlana den Diktator hautnah erlebt. Sie kam zu dem Schluss: „Sein Antisemitismus rührte unbedingt von dem langjährigen Kampf mit Trotzki und dessen Anhängern her und hatte sich allmählich von einem politischen Hass in ein Gefühl des Rassenhasses gegen alle Juden ohne Ausnahme verwandelt“. (Swetlana Allilujewa: Das erste Jahr, Wien 1969, S. 141). Dieses blutrote Genozid-Feld hat die professionelle Vergangenheitsbewältigung wenig beackert. Sie erleichtert es so den Kommunisten und ihren Anhängern, sich als verfolgte Unschuld zu stilisieren und unter dem schützenden Dach des „Antifaschismus“ nach Verbündeten Ausschau zu halten.

Mit der Politik in Thüring hat die CDU auf Druck von Kanzlerin Angela Merkel (im Bild mit dem russischen Präsidenten Vladimir Putin) die Politik der Äquidistanz aufgegeben. c Fyodor Savintsev EC 2007

Die Geschichtsvergessenheit der Linken ist Teil ihrer Strategie und Taktik. Ziel ist die Erhaltung und Vergrößerung von Macht und Einfluss. Die kommunistische Vergangenheit halb Europas wird weder von den Deutschen noch von den Russen zum Gegenstand ausreichender Durchleuchtung gemacht. Die Berliner Republik interessiert sich mehr für braune Flecken auf der eigenen Weste. Und das heutige Russland hat unter Putin Frieden mit der roten Vergangenheit geschlossen. Der Appell an Ehre und Ruhm der russischen Geschichte – einschließlich lautstarker Rote-Armee-Heldenverehrung – steht wieder hoch im Kurs. Die Sowjetzeit wird in Putins Russland schöngeredet. Dabei steht Lenin, der den „Ratten und Schmeißfliegen der Bourgeoisie“ das Recht auf Leben absprach, mit vier Millionen Toten im erwähnten „Lexikon der Völkermorde“ an prominenter Stelle. In der Gesamtbilanz der politisch verursachten Massenmorde – Genozide und Demozide – stehen drei Täter im Ranking noch vor Lenin: Stalin, Mao und Hitler (die laut Heinsohn in dieser Reihenfolge weltweit die ersten Plätze der Schande belegen).

DAS ENDE DER ÄQUIDISTANZ

Damit schließt sich der Bogen zu den Deutschen. Als 1949 die Bundesrepublik Deutschland entstand, war die Mehrheit darauf bedacht, Freiheit und Demokratie sowohl vor Nazis wie vor Kommunisten zu schützen. Es gab einen weitgehenden Konsens: Die politischen Gruppierungen an den äußersten Rändern – links wie rechts – sollten gemieden werden. Für die ursprünglich rheinisch-westdeutsch geprägte CDU war stets klar, dass man zur KPD/SED/PDS/Linke genauso Abstand hält wie zur rechten AfD und ihren Vorläufern. Diese Grundregel des gleich weiten Abstands (der Äquidistanz gegenüber Linken und Rechten) wurde erst jetzt in Thüringen durchbrochen. Die Linke, die Grünen und die SPD haben mit der CDU in Erfurt einen sogenannten „Stabilitätsmechanismus“ vereinbart. Dies bedeutet punktuelle Zusammenarbeit knapp unterhalb der Schwelle einer Koalition. Ein Tabubruch.

So triumphiert die Linksparteichefin Katja Kipping: „Die Verständigung in Thüringen hat historische Dimension – damit ist die von der CDU praktizierte Äquidistanz faktisch erledigt. Dass die CDU endlich die Ausgrenzung linker Ideen korrigiert, ist eine gute Nachricht für den antifaschistischen Konsens“. In zeitlicher Nähe zu dieser Siegesmeldung ließ eine Genossin von Katja Kipping auf einer Strategietagung ihrer Partei in Kassel die Maske fallen und sagte offen, was viele in ihrem politischen Milieu denken. Sie fragte, was es bedeute, „wenn wir das eine Prozent der Reichen erschießen“. Es gab Gelächter und Beifall. Nach Angaben aus Kippings Partei geht es um 690.000 vermeintlich reiche Menschen in Deutschland, denen die Linke an die Gurgel springen will. Allerdings, so betonte Kippings Co-Vorsitzender Bernd Riexinger am 01.03.2020 wörtlich: „Wir erschießen nicht, wir setzen sie schon für nützliche Arbeit ein“. Wiederum gab es Applaus, wobei den altgedienten Parteimitgliedern, die schon unter Honecker dabei waren, das vorschwebt, was sie aus der Zeit der kommunistischen Alleinherrschaft kennen: KZ-Haft mit Zwangsarbeit. Auf Youtube sind diese Kraftsprüche im Originalton hörbar.

Die KPD/SED/PDS/Linke wittert Morgenluft. Zugleich gelangt ans Tageslicht, was Parteigenossen bislang nur heimlich zu denken wagten. Das schadet der Reputation (ähnlich wie das Ibiza-Video in Österreich Wähler verjagt). Das rettende Ufer ist jene Strategie, die sie seit 1945 vollzieht, als sie sich in „antifaschistisch-demokratische Kräfte“ verwandelte. Ihr dunkelroter Kern blieb weitgehend gleich, doch äußerlich war die KP mitunter anpassungsfähig wie ein Chamäleon.

Mit dem Begriff „antifaschistisch“ angelt sie Kooperationspartner aus anderen Lagern – Leute, die von Lenin einst als „nützliche Idioten“ charakterisiert wurden. So alt ist dieses Phänomen, dass es schon die Gründergeneration der Sowjetunion im Werkzeugkasten bereithielt. Man nannte es damals „Volksfront“. Dass es auch in der Merkel-CDU „nützliche Idioten“ gibt, zeigt der brisante Fall Thüringen.

Das Beitragsbild zeigt Josef Stalin bei der Unterzeichnung des Hitler-Stalin- Paktes. c Associated Press 1930 Source EC-Audiovisual Service