China und Russland sind Architekten alternativer Wirklichkeitsräume. Ideologie wird zum Werkzeug der Macht. Allerdings unterscheiden sich die Methoden der beiden Mächte. Von Anna Pattermann
Was ist Ideologie – eine Glaubensfrage oder eine Waffe? In einer Welt, in der Worte Kriege auslösen und Narrative ganze Realitäten verschieben können, wird diese Frage plötzlich brennend aktuell.
Die autoritären Großmächte China und Russland sind längst nicht mehr nur Gegner auf geopolitischer Ebene – sie sind Architekten alternativer Wirklichkeitsräume, in denen Ideologie als strategisches Instrument wirkt. Kein Dialog, kein Argument, sondern ein Werkzeug der Macht.
Hannah Arendt formulierte es einst so: „Ideologie ist nicht Überzeugung durch Gleichheit, sondern Ersatz für Autorität durch Vorstruktur.“ Genau in diesem Sinne begegnet uns Ideologie heute im digitalen Informationsraum: nicht als Einladung zum Diskurs, sondern als Architektur des Gehorsams, der Kontrolle und der systematischen Wirklichkeitsgestaltung.
In diesem Beitrag möchte ich die Frage stellen: Sind die FIMI-Strategien (Foreign Information Manipulation and Interference) Chinas und Russlands wirklich gleich? Oder offenbaren sich grundlegende Unterschiede – in Ziel, Form und ideologischem Unterbau? Denn wer alle autoritären Systeme über einen Kamm schert, verkennt die strategische Vielfalt und unterschätzt die Gefahren für Europa.
Um unsere Demokratien zu schützen, müssen wir die Sprache des Angriffs verstehen – und sie beginnt nicht mit dem ersten Desinformationsbeitrag, sondern mit dem ideologischen Fundament, auf dem er steht.
Chinas Strategie: Ordnung durch Ideologie
In China ist Ideologie kein Überbau – sie ist Infrastruktur. Xi Jinpings Konzept der „gesamtstaatlichen Sicherheitsarchitektur“ (Overall National Security Outlook) verankert ideologische Kontrolle nicht nur im politischen Diskurs, sondern im Kern des Staates. Es geht nicht bloß darum, was gedacht wird – sondern dass alle im selben ideologischen Rhythmus denken (vgl. Blanchette 2020: 2–4).

Für China ist Ideologie Infrastruktur. Es geht nicht nur darum, dass alle das gleiche denken, sondern dass sie auch im selben ideologischen Rhytmus denken. Das Foto zeigt chinesische Soldaten beim Exerzieren.
Ideologische Sicherheit wird zur Voraussetzung politischer Stabilität, zur Verteidigungslinie gegen vermeintliche „westliche Einflüsse“, vor allem aber zum Filter, durch den Welt und Wirklichkeit wahrgenommen werden sollen. Begriffe wie Demokratie, Menschenrechte oder Meinungsfreiheit werden dabei nicht als universelle Prinzipien betrachtet, sondern als „Diskursfallen“, die das ideologische Gleichgewicht unterwandern sollen (ebd.: 6–8).
Was nach Rhetorik klingt, ist in Wahrheit systemisch durchdacht. Die chinesische Staatsführung misst ideologische Sicherheit an drei Kriterien:
1. Ob die herrschende Ideologie ihre gesellschaftliche Mobilisierungsfunktion erfüllt.
2. Ob sich die Mehrheit mit ihr identifiziert.
3. Ob der Staat sie effektiv kontrollieren und gegen Störungen verteidigen kann (vgl. ebd.: 4–5). Ideologie wird damit zum politischen Frühwarnsystem – und zur Waffe zugleich.
International spiegelt sich das in Initiativen wie der Global Development Initiative (GDI), der Global Security Initiative (GSI) oder der Global Civilization Initiative (GCI) wider. Was hier unter dem Mantel „gemeinsamer Entwicklung“ oder „zivilisatorischer Vielfalt“ präsentiert wird, ist eine gut verpackte Infragestellung westlicher Werte und Modelle. Chinas Botschaft ist klar: Eure Demokratie ist nicht alternativlos. Unser System ist genauso legitim – vielleicht sogar stabiler(vgl. L2, Foliensatz: 18).
Diese Form des ideologischen „Soft Power“-Exports ist kein Zufall. Sie dient dazu, Allianzen zu festigen, Abhängigkeiten zu schaffen und langfristig eine Weltordnung zu fördern, in der autoritäre Stabilität ein gleichwertiges Modell zur liberalen Demokratie darstellt. Dabei agiert China weniger laut als Russland – aber strategisch nicht minder wirksam.
Russlands Strategie: Verwirrung statt Konsens
Wenn Chinas Ideologie Ordnung stiften will, dann lebt Russlands Informationspolitik vom Gegenteil: von Verwirrung, Zersetzung und der gezielten Auflösung von Klarheit. Moskaus Strategie setzt nicht auf ein kohärentes Weltbild, sondern auf emotionale Resonanz, nationale Mythen und das Spiel mit Mehrdeutigkeit – ein Informationskrieg ohne festen Boden.
Anders als in China, wo die Partei versucht, Ideologie systematisch zu kontrollieren, ist Russlands Ansatz diffuser – und gerade deshalb wirksam. Putins Macht basiert laut Greene und Robertson nicht nur auf Unterdrückung, sondern auf Ko-Konstruktion: einem geteilten Mythos zwischen Staat und Gesellschaft, gespeist aus kollektiver Erinnerung, Stolz, Kränkung und Angst (Greene & Robertson 2019: 2–3).
Beispielhaft zeigt sich das in der Annexion der Krim, die nicht über politische Argumente, sondern über kollektive Euphorie legitimiert wurde. Nicht der Verstand, sondern das Gefühl wurde angesprochen. Nicht die Wahrheit, sondern die Geschichte, die sich am besten „anfühlt“ (ebd.: 9–10).

Was China und Russland eint (das Bild links zeigt die EU-Flagge neben der chinesischen Flagge), ist das Bestreben, die regelbasierte Ordnung und das westliche Lebensmodell von Demokratie und Freiheit auszuhebeln.
Russlands FIMI-Strategie (Foreign Information Manipulation and Interference) folgt daher keinem ideologischen Exportprogramm wie in China. Stattdessen operiert sie über Ambiguität, Zynismus und Disruption. Medien wie RT oder Sputnik vermitteln kein alternatives Weltbild – sie säen Zweifel, fördern Widersprüche, und untergraben Vertrauen in liberale Institutionen. Ziel ist nicht Konsens, sondern Kontrollverlust – aufseiten der Demokratien.
Diese strategische Unschärfe ist kein Zufall, sondern bewusste Technik. Der russische Militärexperte Gregory Tulchinsky spricht in diesem Zusammenhang von der „impliziten Natur“ der Akteure in Informationskriegen – sie erscheinen oft nur als Interpretation, als Gerücht oder Narrativ (Fridman 2017: 66). Dadurch wird selbst der Diskurs über Informationsmanipulation zu einem Teil der Manipulation. Alles ist wahr – und gleichzeitig nichts.
Ofer Fridman nennt dieses Phänomen „strategische Ambiguität“ – ein Zustand, in dem sich Wahrheit, Täuschung und Interpretation nicht mehr trennen lassen (ebd.: 67). In dieser Grauzone kann Russland jede Kritik als westliche Verschwörung framen und jedes Gegen-Narrativ als „Feindpropaganda“. Zielpublikum ist dabei oft nicht der Westen, sondern die eigene Bevölkerung: Die ständige Erzählung eines belagerten Russlands schafft innere Geschlossenheit durch äußere Bedrohung (ebd.: 81).
Ordnung versus Auflösung
Während China Legitimität aufbaut, dekonstruiert Russland die der anderen. Die eine Ordnung sucht Zustimmung – die andere zielt auf Desorientierung. Beide Systeme verwenden Ideologie – aber mit diametral entgegengesetzten Mitteln.
Zwei Gesichter der Informationsmacht
China und Russland eint das Ziel, die liberale Weltordnung herauszufordern – doch die Mittel, mit denen sie agieren, unterscheiden sich grundlegend. Beide setzen Ideologie strategisch ein, aber sie folgen zwei entgegengesetzten Logiken: China strebt nach ideologischer Kohärenz. Es will ein alternatives Modell zur liberalen Demokratie etablieren – eines, das auf Stabilität, nationaler Souveränität und kultureller Eigenständigkeit basiert. Ideologie wird dabei messbar gemacht, in Sicherheitsstrategien integriert und über internationale Programme wie GDI, GSI und GCI global verbreitet. Es ist ein Modell mit Anspruch auf universelle Gültigkeit – nur ohne die universellen Werte, die wir in Europa verteidigen.
Russland hingegen zielt nicht auf Aufbau, sondern auf Zerfall. Es gibt keinen russischen Gesellschaftsentwurf für die Welt – nur Zweifel am westlichen. Ideologie ist hier kein System, sondern Stimmung. Kein Kodex, sondern Kampf. Die Instrumente sind Emotion, Mehrdeutigkeit und eine Art staatlich orchestrierter Kontrollverlust. Während China das Vertrauen in sich selbst stärken will, will Russland das Vertrauen der anderen zerstören (vgl. Fridman 2017; Greene & Robertson 2019).
Folgen für Europas strategische Resilienz
Diese Differenz ist nicht nur theoretisch bedeutsam – sie hat Konsequenzen für Europas strategische Resilienz. Wer sich nur auf russische Desinformation konzentriert, verkennt die langfristige Wirksamkeit des chinesischen Modells. Wer hingegen die Komplexität russischer Manipulationsmethoden unterschätzt, bleibt anfällig für ihre untergründige Wirkmacht.
Beide Systeme operieren nicht außerhalb Europas – sie sprechen in unsere Diskurse hinein, knüpfen an Unzufriedenheit, Zweifel und Wertekrisen an. Und genau hier wird Ideologie – im Arendtschen Sinne – zu einem gefährlichen Ersatz für Autorität: nicht legitimiert durch Zustimmung, sondern durch vermeintliche Alternativlosigkeit.
Informationsräume werden Schlachtfelder
In einer Zeit, in der Informationsräume zu Schlachtfeldern werden, ist ideologische Wachsamkeit kein intellektueller Luxus – sie ist Überlebensstrategie. Wir müssen erkennen, dass die Gefährdung unserer Demokratien nicht immer mit Gewalt beginnt – oft beginnt sie mit Geschichten. Geschichten, die plausibel klingen. Geschichten, die Ordnung versprechen. Oder Freiheit. Oder Stolz.
Ob diese Geschichten aus Peking oder Moskau kommen – sie verfolgen unterschiedliche Wege, doch sie zielen auf dasselbe: den Erosionspunkt unserer Überzeugungen.
Deshalb ist es heute nötiger denn je, nicht nur was gesagt wird zu prüfen – sondern warum es gesagt wird. Und welches Weltbild zwischen den Zeilen mitgeliefert wird.
Quellenverzeichnis und Literatur
Blanchette, Jude (2020): Ideological Security as National Security: China’s Political Discourse under Xi Jinping.Washington, D.C.: Center for Strategic and International Studies (CSIS), China Power Project.
Insisa, Aurelio (2024–2025): Authoritarian Playbook: China’s Narratives. Vorlesungsfolien, Modul „Authoritarian Playbook – Strategic Communications in the 21st Century“, Istituto Affari Internazionali, Rom.
Greene, Samuel / Robertson, Graeme (2019): Putin vs. the People. The Perilous Politics of a Divided Russia.New Haven, CT: Yale University Press.
Fridman, Ofer (2017): The Russian Perspective on Information Warfare: Conceptual Roots and Political Context.In: Defence Strategic Communications, 2(1), S. 61–86.
Beitragsbild: Das Bild oben zeigt ein hochrangiges Treffen zwischen der EU und Russland, belegt damit, dass man sehr wohl versucht hat, Russland in internationale Strukturen einzubinden und es auf gleicher Augenhöhe behandelt wurde.
c Bilder: Europäische Union 2022 Etienne Ansotte, 2023 Dati Bendo