Wenn Kriegsgegner gemeinsam regieren – müssen?

Der Kosovo steht mit der neuen Regierung vor einem spannenden Experiment. Kann die von der serbischen Minderheit unterstützte Regierung aus ehemaligen UCK-Kommandanten das Land reformieren und die Aussöhnung mit Serbien vorantreiben?

Ein Kommentar von Stefan Haböck, Internationaler Referent der Paneuropabewegung Österreich

Im Juni 2017 wählten die Bürger des Kosovo ihr neues Parlament. Drei Monate später steht nun – endlich – eine Regierung. Soweit so unspektakulär. Zähe Verhandlungen und Blockaden sind bei Regierungsbildungen weder am Balkan noch in anderen europäischen Gegenden undenkbar.

Erstaunlich ist jedoch das Ergebnis der Verhandlungen und die neu gebildete Regierung – die neue Regierung ist nämlich ein spannendes Experiment und dessen Ausgang fundamental für die Stabilität am Balkan und damit des gesamten Kontinents.

Serbien und Kosovo – eine Feindschaft

1998 begann der offizielle Krieg zwischen der serbischen Streitkräfte der Bundesrepublik Jugoslawiens und die Kosovarische Befreiungsarmee (UCK). An der Spitze Jugoslawien stand zu dieser Zeit der sozialistische Diktator Slobodan Milosevic. 2008 erklärte sich der Kosovo von Serbien unabhängig. Bis heute ist die Republik noch nicht von allen Staaten weltweit anerkannt.

Die Lage scheint auf den ersten Blick klar: Die albanische Mehrheit wollte sich nicht mehr von der serbischen Regierung aus Belgrad unterdrücken lassen. Die Kosovarische Befreiungsarmee UCK führte den militärischen Kampf gegen Milosevic und sollte später auch politisch enorme Bedeutung erlangen. Was wiederum der serbischen Minderheit im Kosovo (besonders in und um Mitrovica) – und damit Belgrad – ein Dorn im Auge ist. Und wie in vielen Ländern, wo eine bedeutende Minderheit unter (echtem oder propagandistischem) Schutz einer anderen Regierung steht, sind Konflikte vorprogrammiert. Siehe das Baltikum und die russischstämmige Bevölkerung.

Die UCK – Symbol der Freiheit. Oder der blutigen Abspaltung.

Ehemalige UCK-Kommandanten nehmen heute, rund neun Jahre nach der Unabhängigkeit, führende politische Positionen im Staat ein. Die PDK ist stärkste Kraft im Land und stellt mit Hashim Thaci den Staatspräsidenten.

Die LDK, die Partei von Staatsgründer Ibrahim Rugova – weltweit geschätzt als Mann des Friedens und der Freiheit, hat ihre alte Stärke verloren.

Mit VV – Vetevendosje hat sich eine politische Kraft etabliert, die vor allem auf Kritik am System und an der Korruption setzt. Und als Hardliner in der Frage der Beziehung zu Serbien gilt.

Die Wahlen im Juni 2017 – das Land ist weiterhin gespalten

Bei den Parlamentswahlen am 11. Juni 2017 hat eine Allianz aus PDK (hervorgegangen aus der UCK), NISMA und AAK mit rund 34 Prozent die Mehrheit errungen, ist aber auf Koalitionspartner angewiesen. Die oppositionelle Vetevendosje kam auf knapp 27 Prozent, die konservative LDK, bisher Regierungspartner, erlangte rund 26 Prozent der Stimmen. Die Wahlbeteiligung war mit 42,5 Prozent eher gering.

Anführer der PDK ist Kedri Veseli, ehemaliger Chef des Geheimdienstes. Spitzenkandidat der AAK ist Ramush Haradinaj – ehemaliger Premierminister, vom UNO-Tribunal für Kriegsverbrechen in EX-Jugoslawien angeklagt und 2008 sowie 2012 (als der Prozess zum Teil wiederholt wurde) freigesprochen.

Haradinaj gilt in Serbien noch immer als Kriegsverbrecher. Die 2013 den serbischen Gemeinden durch ein Normalisierungsabkommen EU-Serbien-Kosovo zugestandene Autonomie will er begrenzen. Das kosovarische Verfassungsgericht hat diese Vereinbarung ausgesetzt, seitdem wurde sie auch nicht wieder in Kraft gesetzt.

Schon vor den Wahlen klagte Serbien, die serbische Minderheit und ihre politische Vertretung im Kosovo könnten nicht völlig frei agieren und Vereinbarungen nicht umgesetzt werden.

Haradinaj und Serbien – Feindschaft und nun Kooperation

Dieser gesamte Hintergrund, die Feindschaft zwischen der UCK und der serbischen Regierung, ethnische Konflikte, Streitigkeiten um Autonomie für die serbische Minderheit und der Kampf innerhalb des Kosovo um Reformen, Erneuerung und gegen Korruption macht die neue Regierungskonstellation umso interessanter und überraschender.

Neuer Premierminister wird Ramush Haradinaj, der dieses Amt schon 2004 – 2005 innehatte, bevor er wegen der Anklage vorm Kriegsverbrechertribunal (freigesprochen) zurücktrat und sich freiwillig dem Tribunal stellte. Gestützt von seiner Partei AAK und der PDK. Doch möglich macht diese Regierung mit ihrer knappen (63 von 120 Sitzen) Parlamentsmehrheit zwei Gruppen: Erstens die AKR – Allianz Neues Kosovo des Millionärs Bejghet Pacolli. Der schweizerisch-albanische Unternehmer gilt als Philanthrop, unterstützt viele humanitäre Projekte und wirbt weltweit für die Unabhängigkeit des Kosovo. Zweitens, und hier liegt die Chance aber auch das Risiko für die Stabilität der Regierung, die Partei der serbischen Minderheit. Belgrad, und damit wohl der serbische Staatspräsident Aleksandar Vucic, hat wohl grünes Licht dafür gegeben.

Und so kommt es zu einer Situation, dass im Kosovo nun eine Koalition aus UCK-Kommandanten und der serbischen Minderheit regiert. Nicht aus Freundschaft – der für den Kosovo zuständige Minister in Belgrad begleitete die Regierungsbildung mit einer Drohung.

Taktisches Manöver Serbiens?

Auf den ersten Blick klingt das irreal. PDK und serbische Minderheit in einer Regierung? Kann es das geben? Ja. Wenn man sich die Alternative aus Sicht Serbien und der PDK ansieht. Wie oben geschrieben erreichte die PDK in einem Bündnis mit anderen Parteien nur 34 Prozent  – Gewinner der Wahl war die oppositionelle Vetevendosje.

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Das Parlament der Republik Kosovo – kann die knappe Mehrheit die notwendigen Reformen umsetzen? Fotocredit: Office of the President of Republic of Kosovo (Quelle: http://president-ksgov.net/?page=2,8,3664)

Und neben den normalen Rivalitäten zwischen Parteien, die um die Macht streiten, ist ein Punkt den Vetevendosje angesprochen hat, essentiell und könnte den Ausschlag gegeben haben, eine Regierungsmehrheit ohne sie zu bilden. Denn die Partei hat im Wahlkampf einen harten Kurs gegenüber Serbien gefordert. Eine Regierungsbeteiligung hätte wohl massive Auswirkungen auf die serbische Kosovo-Politik von Vucic gehabt. Und diese ist nämlich aktuell eine – zumindest nach außen hin – versöhnliche.

Vucic propagiert die Annäherung und lockt Kosovo aus der Reserve

Präsident Vucic hat vor wenigen Wochen aufgerufen, dass Serbien in einen internen Dialog über die Beziehung zum Kosovo treten müsse. Dass man Realitäten anerkennen solle und man das Unabhängigkeitsstreben der (Kosovo)Albaner zu lange nicht genug beachtet habe. Zudem finden in Brüssel unregelmäßige Treffen zwischen Vucic und dem kosovarischen Staatspräsidenten Thaci (PDK) statt – auf Einladung von Federica Mogherini, der Hohen Beauftragten der Europäischen Union für Außen – und Sicherheitspolitik.

PDK und Serbien mögen ihre Differenzen haben. Haradinaj mag in vielen Punkten (für Serben) harte Ansichten verkünden. Aber an der Macht können sie Realpolitik machen. Es ist logisch, dass Serbien lieber die bekannten Gesichter als Verhandlungspartner haben möchte anstatt die „neuen“ der VV. Haradinaj gitl als Feind – aber man kennt ihn seit Jahrzehnten. Weiß seine Stärken und Schwächen. Und: durch die Regierungsbeteiligung der serbischen Minderheit kann Belgrad nun konkret in der kosovarischen Politik mitentscheiden. Davon machte man auch sofort Gebrauch und blockierte die Debatte zu einer (von der europäischen Gemeinschaft ebenfalls abgelehnten) eigenen Armee des Kosovo.

Ich bin optimistisch genug, um dies mehr als Chance denn als Risiko zu sehen. Eine innenpolitische Beurteilung sei hier mal außen vorgelassen. Die enormen Herausforderungen vor denen das seit 2008 unabhängige Land steht sind bekannt.

Aber das Ziel beider Staaten ist Europa. Für Serbien konkret die Europäische Union. Und für den Kosovo die Aufhebung der Visapflicht durch die Europäische Union.

Es wird also sowieso keine andere Möglichkeit geben als aufeinander zu zugehen und sich die Hand zu reichen. Streitigkeiten gehören an den „grünen Tisch“, wo man gemeinsame Lösungen finden muss. Wenn das die politischen Gruppierungen beider Länder verinnerlichen, dann ist viel möglich.

Beitragsbild: Haradinaj, ehemaliger UCK-Kommandant, genießt immer noch Unterstützung in vielen Teilen des Bevölkerung und gilt als Kriegsheld.

RH, 5 September 2010, 11:15:53 , Source:FlickrSupporting Ramush Haradinaj , Author: Quinn Dombrowski , Link:https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Supporting_Ramush_Haradinaj.jpg